Jochen Ott: „Lehrer und Schüler brauchen mehr Zeit füreinander“

Jochen mit Paula Ott
Jochen Ott mit Tochter Paula

Täglich treffen in NRW rund 150.000 Lehrerinnen und Lehrer an über 6.000 allgemein bildenden Schulen mit knapp 2,3 Millionen Schülerinnen und Schülern zusammen und „machen Schule“. Aus meiner täglichen Erfahrung als Lehrer weiß ich, dass es dringend nötig ist, die Bedingungen unter denen wir „Schule machen“ weiter zu verbessern, um jedes Kind individuell bestmöglich fördern zu können. Und natürlich damit zugleich die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft zu sichern.

In Klassen mit mehr als dreißig Schülern, die in der sogenannten Mittelstufe, den Klassen 8-10, keineswegs die Ausnahme sind, ist diese individuelle Förderung – gelinde gesagt – schwierig. Wenn Sprachprobleme hinzukommen, wird sie nahezu unmöglich, weil ausreichende Instrumente und Ressourcen zur Vermittlung fehlender Sprachkompetenzen selten vorhanden sind. Häufig ist es ganz konkret „eine Frage der Zeit“, die zur Verfügung steht. Ich bin davon überzeugt: LehrerInnen und SchülerInnen brauchen mehr Zeit füreinander!

Meiner Erfahrung nach ist dies heute auch deshalb besonders wichtig, weil sich die traditionellen Familienformen weiterentwickelt haben und Schule sich mittlerweile mit Problemen beschäftigen muss, die früher in den Familien geregelt wurden. Immer wieder haben wir es mit Schülerinnen und Schülern zu tun, die zuhause wenig oder keine Unterstützung erfahren. Vor diesem Hintergrund ist insbesondere für junge Menschen in der Pubertät, die Entwicklung eines Ganztagsangebotes in der Sekundarstufe I ein wichtiger Baustein für den Bildungserfolg.

Ebenso wichtig für die individuelle Förderung junger Menschen ist der Verzicht auf eine frühe Sortierung der Schülerinnen und Schüler nach vermeintlichen Bildungschancen. Wir sollten damit aufhören, am Ende der Grundschulzeit – und damit viel zu früh – lebensentscheidende Weichen zu stellen. Wir alle kennen „den Spätzünder“. Ich erlebe dieses Phänomen im Schulalltag immer wieder. Junge Menschen, die plötzlich Leistungen zeigen, die vorher unerreichbar schienen. Leben ist nun mal Entwicklung – auch in der Schule. Was lässt uns eigentlich glauben, dass wir die Entwicklungsmöglichkeiten junger Menschen im Alter von neun oder zehn Jahren für ihr Schulleben festlegen könnten?

Im gemeinsamen Lernen Gleichaltriger liegt die Lösung. Die fördernden gruppendynamischen Effekte, die damit verbunden sind, dürfen wir doch nicht ungenutzt lassen, wenn es darum geht gute Bildung zu machen. Eine gute Lehrerin, ein guter Lehrer allein reicht eben nicht aus. Auch die Rahmenbedingungen müssen stimmen. Das betrifft die Strukturen der Lerngruppen. Das betrifft aber auch die Strukturen der gesetzlichen Rahmenbedingungen, unter denen wir Schule machen.

Ständig neue Verordnungen und die Zentralisierung der Prüfungen haben uns in der Schule weitere Bürokratisierung gebracht. Wir konzentrieren uns mittlerweile zwangsläufig vornehmlich auf den Stoff, der geprüft wird. Für andere „freiwillige“ Aktivitäten in unterschiedlichen Bereichen bleibt immer weniger Raum.

Kein Zweifel: Mathematik, Deutsch und Englisch sind wichtig, aber Schulbildung besteht aus mehr, als die Prüfungsordnungen vorschreiben. Und auch wenn die Qualitätssicherung meiner Meinung nach die Vergleichbarkeit durch zentrale Prüfungen erforderlich macht, gilt auch in diesem Fall: Man darf das Kind nicht mit dem Bade ausgießen. Anstatt zentral alle Einzelheiten des Schulalltags regeln zu wollen, brauchen wir vor Ort die Freiheit, die „Herstellung“ der Qualität selbst zu organisieren.