Lesezeichen: Eine neue SPD auf der „Höhe der Zeit“

"Die Mehrheit der Gesellschaft will soziale Demokratie". Unter dieser Überschrift erscheint in der "Süddeutschen Zeitung" von heute (27.08.2007) ganzseitig ein programmatisches Extrakt von Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck, Finanzminister Peer Steinbrück und Außenminister Frank-Walter Steinmeier – den drei SPD-Führungsfiguren der Nach-Müntefering-Zeit. Sie wollen mit ihren Überlegungen, so hört man, das Ideenfundament für eine neue SPD auf der "Höhe der Zeit" legen. Der gesamte Artikel ist als Text im Doc-Format im Ordner Dokumente abgelegt. Hier folgen Ausschnitte:

Die sozialdemokratische Grundhaltung muss auch heute durchgängig aktives Drängen auf Fortschritt und positive Gestaltung sein, schreiben Matthias Platzeck, Peer Steinbrück und Frank-Walter Steinmeier in der "Süddeutschen Zeitung". Wörtlich heißt es weiter:

"…Die eigenen Werte und Ziele ernst zu nehmen heißt, wo immer möglich, Verantwortung zu übernehmen. Genau diesen Weg hat die SPD in den vergangenen Jahren beschritten. Es war die sozialdemokratisch geführte Bundesregierung unter Gerhard Schröder, die mit den Arbeitsmarkt- und Sozialreformen der Agenda 2010 die entscheidende Grundlage dafür gelegt hat, dass inzwischen Hunderttausende Menschen neue Arbeitsplätze gefunden haben. Und es war auch die Regierung Schröder, die in Deutschland den überfälligen Paradigmenwechsel zu einer nachhaltigen Familienpolitik eingeleitet hat, die mehr Menschen als zuvor die Chance gibt, sich ihre Kinderwünsche zu erfüllen. Kräftiges Wirtschaftswachstum, gestiegene Wettbewerbsfähigkeit, deutlicher Rückgang der Erwerbslosigkeit, Stabilisierung der öffentlichen Haushalte, bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, größere Internationalität und kulturelle Offenheit – keiner dieser unbestreitbaren (und unbestrittenen) Erfolge unseres Landes wäre ohne entschiedene sozialdemokratische Regierungspolitik möglich gewesen."

Nach Ansicht der Autoren war der konsequente Erneuerungskurs der Regierung Schröder ein guter Anfang. Wörtlich lesen wir:

"Er hat uns Sozialdemokraten wieder auf Augenhöhe mit der Wirklichkeit gebracht. Diesen Weg müssen wir deshalb entschlossen weitergehen, wenn wir die positive Wechselwirkung zwischen dynamischer Wirtschaft, stabiler Demokratie und sozialer Sicherheit weiter stabilisieren und verstetigen wollen. Gelingen wird dies nur, wenn wir unser Wirtschafts- und Sozialmodell systematisch und kontinuierlich erneuern. Klar ist: Gerade wer eine dynamische Wirtschaft will, der muss unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts mehr denn je für den Sozialstaat eintreten. Aber nicht jeder Sozialstaat ist gleich wirksam. Deshalb muss der Sozialstaat der Zukunft anders funktionieren als der Sozialstaat der national begrenzten Industriegesellschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Der überkommene Sozialstaat, der allzu oft "reparierend" erst dann eingreift, wenn soziale Schadenfälle wie chronische Krankheit, Bildungsmangel oder langfristige Arbeitslosigkeit schon eingetreten sind, ist nicht mehr auf der Höhe unserer Zeit – er gerät unter dem Druck von Demographie und hoher Staatsverschuldung auch an die Grenzen seiner Finanzierbarkeit. Effizienter und zugleich sozial gerechter ist der vorsorgende Sozialstaat, der in die Menschen, in Bildung, Qualifikation, Gesundheit, Lebenschancen und soziale Infrastruktur investiert. Dabei müssen alle wesentlichen Politikbereiche wie ein Rad ins andere greifen: die Bildungspolitik, die Familienpolitik, die Gesundheitspolitik, die Wirtschafts- und die Arbeitsmarktpolitik."

Allen Bedürftigen müssen natürlich auch in Zukunft "nachsorgend" geholfen werden. Denn kein Sozialstaat, der diesen Namen verdient, wird jemals ausschließlich vorsorgend sein können, meinen die Autoren. Wörtlich heißt es weiter:

"Aber ein ausdrückliches Ziel sozialdemokratischer Politik kann das Abhängigsein von sozialstaatlichen Leistungen niemals sein. Deswegen setzt der vorsorgende und investive Sozialstaat darauf, wo immer nur möglich gute und gleiche Lebenschancen für alle Menschen zu schaffen, damit sie ihr Leben aus eigener Kraft und nach den eigenen Vorstellungen leben können. Dies bleibt auch im 21. Jahrhundert zuallererst eine Forderung der sozialen Gerechtigkeit. …

Der vorsorgende Sozialstaat, der präventiv in die Menschen investiert und die Vererbung sozialer Nachteile von Generation zu Generation verhindert, bedeutet einen dringend notwendigen Paradigmenwechsel. Er knüpft aber ideenpolitisch an die ursprünglichen emanzipatorischen Ziele der Sozialdemokratie an. Deshalb ist der vorsorgende Sozialstaat eine handfeste sozialdemokratische Vision für das 21. Jahrhundert. Deshalb dürfen progressive Sozialdemokraten im 21. Jahrhundert niemals Konservative sein, niemals störrische Beharrerdie ohne Weitsicht am Status quo festhalten. Vielmehr sollten Sozialdemokraten überall die Ersten sein, wenn es darum geht, unser Wirtschafts- und Sozialmodell im Interesse der Menschen zu erneuern…."

Zugleich dürfen sich Sozialdemokraten, so Matthias Platzeck, Peer Steinbrück und Frank-Walter Steinmeier, niemals in die Rolle derjenigen drängen lassen, die allein die Verteilung von Wohlstand im Blick haben, nicht aber die Frage nach der Wertschöpfung. Ihre Schlussfolgerung:

"Denn es bleibt dabei: Dynamische Wirtschaft, lebendige Demokratie und ein funktionierender Sozialstaat, der gesellschaftlichen Zusammenhalt ermöglicht, gehören auch im 21. Jahrhundert eng zusammen und bedingen einander. Deshalb müssen es Sozialdemokraten sein, die für dieses Zusammenspiel moderne Konzepte entwickeln. Wir sollten sehr viel Wert darauf legen, nicht allein als Partei der sozialen Gerechtigkeit wahrgenommen zu werden, sondern zugleich auch als Partei einer dynamischen "Ökonomie für den Menschen" (Amartya Sen). Sozialdemokraten müssen auch im 21. Jahrhundert Gerechtigkeitspartei und Wirtschaftspartei zugleich sein, damit das Versprechen des Fortschritts mit neuem Leben erfüllt werden kann. Das wird uns aber nur dann gelingen, je mehr wir neben Sachzwängen und Notwendigkeiten auch die positiven Ziele unserer Politik in den Vordergrund stellen…"

Unter den grundlegend veränderten Bedingungen unserer Zeit, so Matthias Platzeck, Peer Steinbrück und Frank-Walter Steinmeier, gewinnt das Leitbild der sozialen Demokratie neue Dringlichkeit – und neue Attraktivität. Ihr Fazit:

"Heute steht unsere Gesellschaft vor der Wahl: Entweder wir finden uns damit ab, dass sich die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Nachteile der einen ebenso von einer Generation zur nächsten weitervererben wie die Privilegien, Fertigkeiten und Vermögen der anderen. Oder wir schaffen die Voraussetzungen dafür, dass möglichst alle Menschen von Anfang an und immer wieder aufs Neue die Gelegenheit erhalten, durch eigene Leistung voranzukommen, auf ihren eigenen Füßen zu stehen und ihre eigenen Ziele zu verwirklichen. Welchen Weg wir einschlagen – genau das wird über die Lebensqualität, den Wohlstand und den Zusammenhalt unserer Gesellschaft im 21. Jahrhundert entscheiden. Unsere Entscheidung ist klar: Der sozialdemokratische Weg ist der Weg der Lebenschancen für alle.

Angesichts dieser Situation haben Sozialdemokraten zu Kleinmut nicht den geringsten Anlass. Die gesellschaftliche Nachfrage nach einer zeitgemäß erneuerten Variante von Sozialdemokratie wächst. Gerade jetzt erleben wir einen historischen Augenblick, in dem die gesellschaftlichen Erwartungen an die Politik kaum sozialdemokratischer geprägt sein könnten. Die Menschen wollen wirtschaftliche Dynamik, demokratische Stabilität und gesellschaftlichen Zusammenhalt zugleich.

Wir haben nicht den geringsten Zweifel: Unter den veränderten Bedingungen der globalisierten Gegenwart wird sich das Leitbild der sozialen Demokratie aufs Neue als attraktiv und mehrheitsfähig erweisen – wenn die Sozialdemokratie als Partei der entschlossenen Erneuerung auf der Höhe ihrer Zeit ist und Lösungen für Probleme anbietet, die Menschen in unserer Gesellschaft wirklich haben. Tun wir das, kann das 21. Jahrhundert zum zweiten großen Zeitalter der sozialen Demokratie werden. Auf uns selbst kommt es jetzt an."