

"Was ich möchte, ist, dass diese SPD versteht, dass sie sich verändern muss, dass es Stillstand nicht gibt, dass das Leben ein Prozess ist." Dies erklärte der ehemalige SPD-Vorsitzende und heutige Vizekanzler Franz Müntefering in einem Interview mit dem Magazin der "Süddeutschen Zeitung" vom 13.04.2007. Es sind erstaunliche Töne, die Franz Müntefering anschlägt, meint SPIEGEL ONLINE vom 13. April 2007. Besinnlich und ungewöhnlich introspektiv erlebt der Leser den Vizekanzler, der sonst nüchtern und verschlossen ist. Es folgen Auszüge aus dem Interview:
" … SZ-Magazin: Ursula von der Leyen hat auf die Frage, was sie in Berlin am meisten überrascht hat, geantwortet: Franz Müntefering. Sie seien ernsthaft und lernwillig.
Müntefering: Stimmt, wobei mir noch mehr einfallen würde (lacht). Politiker sind oft anders, als der politische Gegner das vermutet. In so einer Großen Koalition ist das schon ein Erlebnis, besonders im Kabinett, weil wir uns da authentischer erleben als sonst.
SZ-Magazin: Was sagt Ihnen das über Ihr Image, dass jemand von außen Sie nach persönlichem Erleben viel positiver findet?
Müntefering: Das ist nicht neu für mich. Wenn ich auf einer Versammlung bin, unter Menschen, die mich nicht kennen, dann gibt es immer zwei Feststellungen. Erstens: Ich bin kleiner, als sie gedacht haben. 1,76 – was soll ich machen? Und zweitens: Dass ich freundlicher bin, als sie gedacht haben. Ich glaube, dass ich durch meine Art und durch die Physiognomie Kantigkeit und manchmal auch Strenge ausstrahle. Ich habe darüber auch mal mit jemandem gesprochen, der davon etwas versteht, einem Professor oder so. Ich hab gesagt: Muss ich da was ändern? Der hat gesagt: Tun Sie das nicht. Bleiben Sie original. Der hatte recht. …"
Auf die Frage, wie er zur Politik gekommen sei, erklärt Franz Müntefering:
"Aus dem Willen heraus, Bescheid zu wissen und mich einmischen zu können. Das war ein erster Schub in meinem Leben. Ich habe lange eine Art Doppelleben geführt. Ich hab gearbeitet, brav in der Firma. Daneben habe ich wie verrückt gelesen und gelernt, ohne eigentlich zu wissen, wohin und wofür.
SZ-Magazin: Woher kamen die Anregungen?
Müntefering: Nicht von zu Hause. Ich habe meinen Vater nie mit einem Buch gesehen. Außer dem Gesangbuch sonntags. Meine Mutter hat Lore-Romane gelesen. WDR, drittes Programm, das war eigentlich meine Heimvolkshochschule. Ich hab Dostojewski gehört, Raskolnikow, Schuld und Sühne. Meine Mutter hat das mitbekommen, hat gesagt: Mach das nicht, das ist ganz gefährlich. Das führt irgendwo in Untiefen, in Zweifel, in Sinnkrisen, in Unglück. Aber mich hat das interessiert: Was ist eigentlich der Sinn? Was ist die Wahrheit über das Leben? Was ist wirklich wichtig? … 1965 ist meine erste Tochter geboren, und die SPD hat die Wahl verloren. Da habe ich gesagt: So kann das nicht weitergehen. Mit mir nicht und mit denen nicht. Und dann bin ich da hin. Es sind nicht wenige und nicht die Schlechtesten, die in Situationen zu Parteien gehen, wenn es denen schlecht geht und wo man sagt: Jetzt musst du selbst was tun. Alle Türen waren offen. Da habe ich begriffen: Wer was verändern will, der kann das in dieser Gesellschaft…"
Nach Meinung von Franz Müntefering hat das auch heute noch Gültigkeit. Wörtlich meint der Vizekanzler im SZ-Magazin:
"… Manche Philosophen sagen: Es gibt keinen Fortschritt. Ich sage: Versuchen wir es trotzdem. Das Paradies auf Erden wird’s nicht geben, den neuen Menschen auch nicht. Aber man kann verhindern, dass es schlimmer wird, und man kann erreichen, dass es etwas besser wird. Das ist Politik. Die politische Linke hat sich Gott sei Dank von der Illusion getrennt, es gebe so etwas wie eine automatische Entwicklung in der Gesellschaft, die zum Guten führt. Das waren alles Irrtümer. Das liegt hinter uns. Man weiß, dass man darum kämpfen muss. Immer wieder. Wie Sisyphus. Aber der war bekanntlich glücklich.
SZ-Magazin: In der SPD heißt es inzwischen, Sie kämpfen da ohne Rücksicht auf die Partei.
Müntefering: Nein mit und für meine Partei, die ich mag, die ich toll finde. Was ich möchte, ist, dass diese SPD versteht, dass sie sich verändern muss, dass es Stillstand nicht gibt, dass das Leben ein Prozess ist. Das Festhalten an dieser schönen Zeit, wo wir groß und stark waren und alle zu uns gekommen sind ‚Willy wählen, alles wunderbar‘, das ist falsch, und eigentlich ist es ein Vergehen an der Partei und an ihrer Idee. .."
Nach Ansicht von Franz Müntefering hat die SPD hat eine historische Schwäche. Der Vizekanzler begründet das so:
"… Wir waren die Opposition, die »vaterlandslosen Gesellen«. Die wurden bekämpft von Staat, von Kirche, von der Reichswehr. Das hat eine Mentalität geschaffen: Den anderen gehört eigentlich das Land. Das begleitet uns oft. Wenn ein Sozi Kanzler ist, dann sagen die Konservativen: Das ist ein historischer Irrtum. Aber schlimmer ist, wenn sogar die Sozis sagen, es sei normal, dass die anderen regieren. Diese Mentalität, die behindert uns. Die eigentliche Verantwortung beginnt bei der Handlungsbereitschaft. Nicht beim Besser?Wissen, sondern beim BesserMachen. Man muss das Land regieren wollen, und zwar nicht als Rotkreuzwagen, der die Mühseligen und Beladenen auflädt. Das muss alles auch sein, ich verspotte das nicht, im Gegenteil. Aber die SPD muss sagen: Wir machen das Ganze besser. Nicht nur: Wir machen Sozialpolitik besser.
SZ-Magazin: Heißt das, ein Politiker kann nicht immer nur ein guter Mensch sein?
Müntefering; Das kann keiner. Wir fühlen uns am wohlsten, wenn wir unter uns sind: auf Parteitagen, mit Fahnen und Liedern. Auch ich mag das. Ssäkularisierte Kirche. Und wir sind die Verfolgten mit den guten Absichten. Das reicht aber nicht. Es passiert nichts Gutes. Außer: Man tut es.
Haben Sie dieses Verhalten an sich selbst auch bemerkt?
Na klar. Weil das edler und schöner ist, Menschen zu helfen, als zu sagen: Also, wir hatten eine schlechte Ernte und es gibt weniger zu essen. Aber das muss ich jetzt machen, weil ich, weil wir als SPD, die Verantwortung für jetzt und später, für das Ganze haben. Und auch haben wollen müssen. Das ist auch meine Kritik an Teilen der Gewerkschaften, dass sie das nicht sehen wollen. …"
Das SZ-Magazin erinnert sodann, daß Müntefering Brandts Enkeln – Scharping, Lafontaine, Schröder, drei Männern, die sich gegenseitig bekämpft haben, gedient habe. Dazu der Vizekanzler und Minister für Arbeit:
"… (Lacht) Also damals, in einem Moment des Übermuts, hätte ich denken können: ein Erwachsener unter Halbstarken. Es kam anders. … Alle drei haben Verdienste. Gerd Schröder besonders. Er hat sich durchgesetzt. Lafontaine hat immer gezögert. Das war nur Reden, mehr nicht. Schröder hat es dann getan. Der hatte diesen Willen – auch zur Macht. Er war der Erste seit Helmut Schmidt, der gesagt hat: Wir können das mindestens genauso gut wie die Konservativen. Gerd Schröder hat Weichen gestellt. In die richtige Richtung.
SZ-Magazin: Müntefering und Schröder, das ist die Geschichte einer Annäherung. Wie hat sich das aus Ihrer Sicht zugetragen?
Müntefering: Wir haben 1998 die Bundestagswahl gewonnen und begonnen zu regieren. Ich will nicht sagen leichtfertig, aber in großer Fröhlichkeit. … Ich mache das nicht mit Sektglas in der Hand. Ich habe aber schon geglaubt: Wenn wir das jetzt machen, dann kann das recht locker in eine vernünftige Richtung gehen. Nach der Bundestagswahl 2002, als alles einfach so weitergehen sollte, hatte ich das Gefühl, dass das nicht verantwortbar sei. Wir haben darüber gesprochen: Schröder, Eichel, Steinmeier, andere auch. Wir hatten unterschiedliche Vorstellungen, ganz klar. Und dann kam der 14. März. Das war der Tag der Agenda-Rede. Das war meine Damaskus-Phase, das gebe ich zu. Da habe ich im Bundestag als Fraktionsvorsitzender eine Rede gehalten, wo ich ganz zu Anfang gesagt habe: Herr Bundeskanzler, Sie können sich darauf verlassen: Das machen wir jetzt. Das war der Schwur. …"