Lesezeichen: „Den Sozialstaat auf gesunde Füße stellen“

"Mir scheint, es sind weniger die beiden Fraktionen, die sich derzeit streiten. Es sind vielmehr einzelne Personen, die geltungsbedürftig sind und irgendwelche Meinungen artikulieren. Das gilt vor allem für die Ministerpräsidenten, die von der Sache weniger verstehen als die beteiligten Bundesminister." Dies erklärte Altkanzler Helmut Schmidt in einem Interview mit der Wochenzeitung DIE ZEIT (28.09.06). Schmidt war zur Zeit der ersten Großen Koalition (1966-1969) Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion. Auf die Frage, wie groß seinerzeit das Vertrauen zwischen Union und SPD gewesen sei, antwortete Schmidt wörtlich:

"Die Große Koalition hat einigermaßen ordentlich funktioniert, weil im Parlament auf beiden Seiten das Verantwortungsbewusstsein groß genug war. Schwieriger war es in der Regierung. Das Verhältnis zwischen Kanzler und Vizekanzler, zwischen Kurt Georg Kiesinger und Willy Brandt, wurde zunehmend schlechter. Die redeten zum Schluss kaum noch miteinander."

Nach Meinung von Helmut Schmidt gab es damals keinen Streit. Wörtlich:

"Es gab in beiden Fraktionen eine Vielfalt von Meinungen, etwa über eine Reform des Wahlrechts oder über die so genannte Notstandsgesetzgebung. Aber der Ausdruck Streit ist falsch. Wir haben uns damals bei Meinungsverschiedenheiten, die von Anfang an bestanden, langsam einander angenähert."

Zum aktuellen Streit um die Gesundheitsreform erklärt Schmidt im Interview mit der Wochenzeitung "Die Zeit":

"Die Gesundheitsreform ist im Verhältnis zu anderen, dringenden Aufgaben zweitrangig. Die wichtigste Aufgabe ist es, mit der Massenarbeitslosigkeit fertig zu werden, insbesondere in den neuen Bundesländern. Dann geht es darum, den Sozialstaat insgesamt auf gesunde Füße zu stellen, damit er erhalten bleibt. Die größte Kulturleistung der Europäer im 20. Jahrhundert ist der Sozialstaat! Die Gesundheitspolitik ist aber lediglich eine Unterabteilung des Sozialstaats. "

Auf die Frage, welche Folgen ein vorzeitiges Scheitern der Großen Koalition hätte, sagte Helmut Schmidt:

"Das parlamentarische System wäre nicht gefährdet. Allerdings hat das System einen gravierenden Fehler: Bei Wahlen spielen der Kanzler und der Kanzlerkandidat eine ganz große Rolle. Und hinterher stellt sich heraus, das der Gewählte gar nicht allein regieren kann, sondern eine Koalition bilden muss. Das Volk glaubt, es geht um zwei Personen, aber in Wirklichkeit geht es um sechs Parteien."