Lesezeichen: „Sieht so das modernste Schulsystem Europas aus?“

Der Anspruch, das modernste Schulsystem Europas zu haben, ist während der Ankündigungen und der Beratung über das neue Schulgesetz, das der Landtag von Nordrhein-Westfalen am Donnerstag (22.6.2006) verabschiedet hat, immer wieder erhoben worden. Dies berichtet die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG (FAZ) in ihrer Ausgabe vom 23.6.2006. Aus der letzten Landtagsdebatte klingen noch die Hymnen nach, die diesem Gesetzeswerk von seinen Befürwortern gesungen wurden. Ziemlich genau ein Jahr nach der Regierungsübernahme von CDU und FDP wird sich mit dem kommenden Schuljahr im August eine Menge an den nordrhein-westfälischen Schulen ändern. Wörtlich heißt es in der FAZ:

"… In der Oberstufe wird wieder im Klassenverband unterrichtet und die Abiturprüfung auf die Kernfächer konzentriert. Schon im nächsten Jahr werden die Abituraufgaben zentral gestellt werden, ebenso die für den mittleren Bildungsabschluß. Jahr für Jahr wird das Einschulalter vorgerückt, bis die Einschulung mit fünf Jahren der Regelfall ist. Die Schulbezirksgrenzen für Grund- und Berufsschulen werden aufgehoben. Schon mit vier Jahren wird es erste Sprachtests geben. Betragen und Fleiß werden wieder benotet, und die disziplinarischen Rechte der Lehrer werden gestärkt. Sie dürfen vom Unterricht ausschließen und Schulschwänzer mit einem Bußgeld belegen. Auch bei der Entscheidung für die weiterführende Schule hat ihr Wort mehr Gewicht. Der Schulleiter wird demnächst von der Schulkonferenz gewählt, zunächst für fünf Jahre und dann noch einmal für fünf Jahre, bevor er dauerhaft verpflichtet wird…"

Nach Anischt der FAZ ist die Schulleiterwahl ist umstritten und rechtlich nicht sicher. Wörtlich lesen wir:

"Sie ist aber der höchste Ausdruck für die neue Selbständigkeit der einzelnen Schulen. Sie sollen sowohl in der Schulverwaltung, etwa im Budgetrecht, als auch in der pädagogischen Gestaltung wie bei der inhaltlichen Ausrichtung Schwerpunkte bilden und selbständig handeln. In diesem Punkt hätte auch die Opposition zustimmen können. Das neue Gesetz setzt mit anderen Akzenten den Weg fort, den die rot-grüne Regierung eingeschlagen hat, und führt die Selbständigkeit weiter. Da gibt es viel Zustimmung im Land. Weil aber mehr Freiheit auch mehr Abstimmung verlangt, um ein vergleichbares Niveau zu halten, soll es regelmäßige Qualitätskontrollen geben. Die alte Schulaufsicht soll zu einer Art Unternehmensberater werden und bei der Leistungsverbesserung helfen. Noch ist ungewiß, wie sich dies in der Schulpraxis bewährt…"

Die am meisten genannte und wichtigste Veränderung, die individuelle Förderung, ist jedoch die umstrittenste. Dazu bemerkt die FAZ:

"…Die Schüler, die hochbegabten wie die schwächer begabten, sollen je nach ihren eigenen Möglichkeiten individuelle Förderung erfahren. Dadurch soll auch die Durchlässigkeit zwischen den Schulformen erhöht werden. Nach jedem Schuljahr, in den Klassen fünf und sechs sogar nach jedem Schulhalbjahr, soll überprüft werden, ob ein Schüler in einer anderen Schulform besser aufgehoben wäre. Das ist ein hehrer Anspruch, doch wohl kaum nahe an der Wirklichkeit, sagen Praktiker. Denn jede Schulklasse jeder Schule braucht starke und schwächere Schüler. So werden die Leistungsträger nicht gleich in die nächsthöhere Schule abgehen, wo sie wahrscheinlich nur mittelmäßig sind. Dagegen sprechen auch erzieherische Gründe. Überflieger fallen auch heute schon auf und wechseln ohne Schwierigkeiten. Zum anderen gibt es begründete Zweifel, ob es genügend Lehrer gibt, um eine solche individuelle Förderung zu gewährleisten. Jene tausend Lehrer, die pro Jahr zusätzlich eingestellt werden, reichen dafür nicht aus. Sie entspannen gerade einmal die knappe Lehrerversorgung und lindern den Unterrichtsausfall. Da sind die Ansprüche nicht mit den notwendigen Ressourcen hinterlegt…."

Von der Gesamtschule über die Realschule und die Hauptschule, so die FAZ weiter, sind keine strukturellen Vorkehrungen getroffen werden. Wörtlich:

"…Mit Blick auf die demographische Entwicklung kann dies fatal sein. Was soll zum Beispiel aus der Hauptschule werden? In Bochum gibt es Hauptschulen, die nach der bisherigen Anmeldung kaum eine Klasse zusammenbringen. Umgekehrt gibt es Gymnasien, die Schüler halten, die vielleicht anderswo besser aufgehoben wären, weil zwanzig Schüler eine Lehrerstelle bedeuten. Wenn also Schulen mangels Schülern das Lehrangebot reduzieren, wird man kaum noch von individueller Förderung sprechen können. Für diese Entwicklung, die für die kommenden Jahre absehbar ist, sieht das neue Schulgesetz keine richtungweisenden Hinweise vor. Eine eindeutige Absichtserklärung zu einem Zwei-Säulen-Modell, wie es in Hamburg oder Sachsen von CDU-Regierungen praktiziert wird, steht nicht im Gesetz, auch wenn manches darauf hindeutet. Schließlich bleibt der ganze vorschulische Bereich ausgeklammert, obwohl doch Sprachtests mit vier Jahren vorgeschrieben werden…"

Die FAZ zieht folgendes Fazit:

"Das neue Schulgesetz soll zunächst Wahlversprechen einlösen und ein großes, vielleicht wahlentscheidendes Thema abschließen. Bis 2010, dem nächsten Wahltermin, soll Ruhe in die Schulen einziehen. Es soll sich einprägen, daß die Landesregierung tut, was sie verspricht. Ob es dazu kommt, hängt von der Anwendung des Gesetzes ab. Es sind eine Menge Veränderungen in den Schulen um- und durchzusetzen. Wenn das nicht reibungslos klappt, wird es Unmut geben. Schon jetzt wird von drohenden Klagen gesprochen. Angeblich wollen Kommunen gegen die Schulleiterwahl vorgehen, weil sie ihre Rechte als Schulträger beschnitten sehen. Rechtsstreitigkeiten sind auch abzusehen, wenn Kinder nicht an der Schule angenommen werden, an der sie sich anmelden. Ganz schwierig wird es dann, wenn ein Rechtsanspruch auf individuelle Förderung geltend gemacht wird. Das neue Schulgesetz ist als großer Wurf angelegt, es könnte aber nach kurzem Flug aufschlagen."