
Das bürgerliche Lager, so DER SPIEGEL, zerfällt in Reformbürger und Altbürger, und die trennt mindestens so viel wie Kommunisten von Sozialdemokraten. Wörtlich: ‚Die einen Bürger wollen Sicherheit, Stabilität und Schutz vor Risiken, sie wollen einen starken Staat und ein soziales Netz. Die anderen Bürger wollen radikale Reformen, mehr Eigeninitiative, mehr Risiko, sie wollen weniger Staat und mehr Markt; die einen wollen immer noch "keine Experimente" wie in den fünfziger Jahren und wählen deshalb CDU, die anderen wollen "Mehr Freiheit wagen" und wählen deshalb CDU oder FDP.‘
Beide Gruppen hat die CDU im vergangenen Jahr verunsichert, fährt das Magazin fort. Als Dilemma des des bürgerlichen Lagers konstatiert DER SPIEGEL: ‚Konservativ und neoliberal sein zu wollen, zu bewahren und zu reformieren, gute alte Werte wie Sparsamkeit, Bescheidenheit und Gemeinsinn zu verkünden und gleichzeitig einen dynamischen Kapitalismus zu propagieren, gottesfürchtig zu sein und gleichzeitig marktgläubig, den Familienmenschen zu predigen und ihm gleichzeitig Arbeitsmarktflexibilität abzufordern.‘
Im politischen und kulturellen Überbau, so DER SPIEGEL, drückt sich dieser Widerspruch aus als Kampf zwischen Konservativen und Rebellen, es tobt eine ständige Schlacht zwischen dem bewahrenden und dem dynamischen Bürgertum, und wenn der Konservatismus zu sehr zur Fessel der bürgerlichen Gesellschaft wird, dann rebelliert die dynamische Fraktion. Wörtlich:
‚Anfang der sechziger Jahre etwa war die bundesdeutsche Gesellschaft im Inneren umstellt von so viel Konservatismus, von so vielen Regeln, Verboten und Vorschriften, von so vielen Werten und bürgerlichen Tugenden, von so viel Deutschtümelei und Provinzialität, dass es aus ökonomischen, politischen und kulturellen Gründen irgendwann krachen musste: Mit der Hierarchiegesellschaft, mit den ständischen Strukturen der Adenauer-Republik, mit den Ordinarienuniversitäten ("Unter den Talaren der Muff von tausend Jahren") war die Modernisierung der kapitalistischen Produktion nicht zu meistern.‘
Das Leben in der Bundesrepublik Mitte der sechziger Jahre hatte sich verändert, schreibt DER SPIEGEL.
‚Was als zarte Bewegung für ein bisschen mehr Spaß, bessere Musik und mehr Sex begonnen hatte, wurde so zu einer Schlacht gegen das bürgerliche Leben, die Bürgerkinder entdeckten den Reiz der Boheme und den Spaß an der Provokation, und je weniger Spaß die Autoritäten verstanden, desto mehr wuchs das Ganze an den Gymnasien und Hochschulen zu einer antiautoritäten Bewegung.‘
Doch aus der Weltrevolution wurde bekanntermaßen nichts,resumiert DER SPIEGEL. Wir lesen: ‚Die Bourgeoisie zu stürzen und den Kapitalismus zu beseitigen, das haben die rebellischen Bürger nicht geschafft, aber den deutschen Kapitalismus zu verwestlichen und zu modernisieren, das ist ihnen gelungen.‘ Und: ‚ Politisch wurde die große Bürgerinitiative der außerparlamentarischen Opposition der Sechziger zum Vorbild für Hunderte und Tausende großer und kleiner Bürgerinitiativen in den folgenden Jahrzehnten, gegen Tierversuche, Atomkraftwerke und Hundekot. Sie machten aus der wilhelminischen Untertanenrepublik eine deutsche Demokratie, die mehr ist als eine Parteiendemokratie. In der SPD verdrängten die Eingetretenen die alten Traditionsgenossen von den mittleren Führungsfunktionen, die Arbeiterpartei verbürgerlichte, ist heute in der Hand von 50- bis 60-Jährigen, die mal an die Illusion geglaubt haben, der Kapitalismus könne auf dem Verwaltungswege sozialistisch werden.‘
Weil sie die SPD irgendwann zu reformistisch und angepasst fanden, so DER SPIEGEL, zogen viele der 68er weiter zu den Grünen, und gemeinsam gelang es Rot und Grün, das antikonservative Milieu, das sich in den sechziger Jahren herausgebildet und bis in die neunziger gehalten hatte, für den Wahlsieg 1998 zu mobilisieren. Zitat: ‚Das rot-grüne Projekt war in den Augen ihrer Wähler mehr ein kulturelles als ein politisches Projekt. Sie wollten eine moderne Republik, in der Schwule und Lesben heiraten durften, in der Windkraft die Atomkraft ablöst, in der Bildung und Kultur wichtiger sind als Polizei und Bundeswehr, in der Grönemeyer mehr zählt als der "Musikantenstadl", in der Frauen mehr Macht haben, Ausländer mehr Rechte und Ansehen.‘ (Zitatende).
Schröder und Fischer, der Kanzler und der Außenminister, haben nach Ansicht des SPIEGEL das Verhältnis vieler Deutscher zu ihrem Land entkrampft. Besonders jene Generation, die ihre Identität in den sechziger Jahren fand durch die Abkehr von erstickender Deutschtümelei, hat in den rot-grünen Jahren ihr Land mehr schätzen gelernt.
Wörtlich: ‚Weil viele Menschen dieser Generation das Leben in der Bundesrepublik zu deutsch fanden, haben sie durch ihr Leben das verändert, was deutsch ist und nun als deutsch gilt. Jede Generation verändert das, was eine Nation ausmacht, gibt ihr etwas, nimmt ihr etwas, diese Generation hat die Deutschen internationaler und multikultureller gemacht. Der Internationalismus besonders von Pop, Film und Mode hat der Globalisierung kulturell den Weg geebnet, die Weltkultur, die sich in den Sechzigern herauszubilden begann, hat die Kultur der Nationen so verändert, dass man mit dem Beschwören der Leitkultur der fünfziger Jahre dem Leben in Deutschland nicht gerecht wird.‘